Musik für Carillon und Elektronik in Berlin-Tiergarten 1988 - 2007
Von Jeffrey Bossin
Seit dem Beginn meines Musikstudiums an der University of California at Riverside 1968 bildet zeitgenössische Musik einen der Schwerpunkte meines künstlerischen Schaffens. Ich nahm Kompositionsunterricht an der Universität und wirkte als Pianist in einem Ensemble für Neue Musik. Parallel dazu nahm ich Carillonunterricht bei Lowell Smith, der seinerzeit von Leen't Hart an der niederländischen Carillonschule in Amersfoort ausgebildet worden war. 1971 – 1972 verbrachte ich als Austauschstudent an der Reid School of Music der University of Edinburgh, Schottland und erhielt zum Schluss mein Bachelor-Diplom im Hauptfach Musik. Wegen seines Rufes als eines der europäischen Schauplätze von moderner Kultur und Musik siedelte ich anschließend nach West-Berlin über und nahm ein Studium der Musikwissenschaft bei Prof. Carl Dahlhaus an der Technischen Universität Berlin auf. 1984 legte ich mein Magisterdiplom ab, und gleich danach schlug ich dem Berliner Senat anlässlich der bevorstehenden 750-Jahr-Feier der Stadt den Bau eines Grand Carillons im Tiergarten vor, das dann 1987 fertig gestellt wurde (Fußnote 1) .
Im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte spielte ich viele moderne Werke für Solo-Carillon und einige für Carillon und herkömmliche Musikinstrumente – darunter mehr als 40 Uraufführungen – und veranstaltete mehrere Konzerte mit Musik für Carillon und Elektronik (Fußnote 2). Wegen meines Interesses für zeitgenössische Musik hatte ich während meines Studiums an der Technischen Universität Berlin auch einige Jahre in dessen elektronischem Studio gearbeitet, das direkt unter dem Institut für Musikwissenschaft lag.
Berlin spielte seit einiger Zeit eine wichtige Rolle in der Geschichte der elektronischen Musik. Bereits 1930 hatte Friedrich Trautwein, der einige Jahre später als Professor an der Hochschule für Musik in Berlin tätig war, einen Artikel über elektronische Musik veröffentlicht und das Trautonium gebaut, eines der ersten Musikinstrumente, die, wie die Ondes Martenot, Töne und Geräusche mittels elektrischer Spannungen erzeugten. In den folgenden Jahren schrieben bekannte Komponisten wie Paul Hindemith und Harald Genzmer Werke für Trautonium. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein elektronisches Studio an der Technischen Universität Berlin, die um die Ecke von der Hochschule für Musik lag, eingerichtet, und damals führende Komponisten wie Ernst Krenek und Boris Blacher experimentierten in dem Studio mit elektronischer Klangerzeugung und schufen elektronische Musik. Zwischen 1969 und 1970 arbeitete Karlheinz Stockhausen mit dem Studio der TU Berlin an der Entwicklung und dem Bau eines sphärenförmigen Konzertsaals für die Weltausstellung in Osaka zusammen, wo viele seiner Werke wie Kontakte, Hymnen, Stimmung, Kurzwellen und Spiral aufgeführt wurden.
Einige Jahre nach meinem Umzug nach Berlin übernahm Folkmar Hein die Leitung des Studios, und während der folgenden Jahren baute er es zu einem der weltweit modernsten und vitalsten Zentren der elektronischen Musik aus, wo er zahlreiche Komponisten aus dem In- und Ausland, darunter vielen DAAD Stipendiaten, betreute. In der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre schloss ich mich eine Gruppe junger ehrgeiziger Berliner Komponisten an, die sich Klangwerkstatt nannte und unter Heins Führung im Studio arbeitete. Während dieser Zeit schuf ich einige eigene elektronische Stücke, die während Konzerte an der TU Berlin und der Akademie der Künste in Berlin und im Rahmen des internationalen Festivals für elektronische Musik in Bourges, Frankreich erklangen. Diese Arbeit gab ich jedoch auf, um mein Studium der Musikwissenschaft abzuschließen und anschließend das Carillon in Berlin-Tiergarten zu projektieren. Beim Bau des Turmes gewann ich Folkmar Hein als Akustiker, und er begeisterte sich für das ungewöhnliche Musikinstrument.
Blick auf den Carillonturm 1988 mit dem Technikplatz (Foto: Bossin)
Nach der Fertigstellung 1987 wurde ich mit dessen Betreuung und Bespielung beauftragt, und Hein schlug gleich ein Konzert mit Carillon und Elektronik vor, das er im Rahmen einer Werkstatt Elektroakustischer Musik anlässlich Berlins Jahr als Kulturstadt Europas 1988 veranstaltete. Es wurde nur das erste einer langen Reihe solcher Konzerte, die zur Entstehung von mehreren neuen Werken für Carillon und Elektronik führten (Fußnote 3). Es waren alle der dafür notwendigen Voraussetzungen vorhanden: ein Carillonneur, der sich für zeitgenössische Musik einsetzt und Erfahrung mit Elektronik hatte, ein elektronisches Studio dessen Leiter das Carillon gut kannte und schätzte, und ein großes Instrument von guter Qualität. Die Größe und der Standort des Carillons erwiesen sich ebenfalls als vorteilhaft. So bietet der große Umfang des Instruments von fünfeinhalb chromatischen Oktaven von F0 bis c6 ein breites Spektrum an Klängen. Dazu hängt es nur etwa 25 bis 40 Meter über dem Erdboden, also nicht allzu weit von den Lautsprechern, sodass die Glocken mit der Elektronik räumlich gut zusammenklingen. Unerlässlich für ein erfolgreiches Konzert sind vor allem einige Tage warmes trockenes Wetter, da während Proben und Aufführungen die elektronischen Geräte, die bereits allein durch hohe Luftfeuchtigkeit beschädigt werden können, im Freien stehen. Weil die Konzerttermine Monate im voraus festgelegt werden müssen, war das Wetter stets eine Glückssache, besonders bei den gewöhnlich kühlen, feuchten und unbeständigen nordeuropäischen Sommern. Deshalb wurde oft auch ein Ausweichtermin für den Notfall vorgesehen. Waren jedoch die Geräte zum Turm gebracht und die Mittel für Transport und Versicherung dadurch einmal ausgegeben worden, war es aus finanziellen Gründen meistens nicht möglich, das Konzert, falls doch nötig, zu verschieben.
Das erste Carillonkonzert mit Elektronik wurde bereits nur zehn Monate nach der Einweihung des Carillons veranstaltet.
Techniktisch auf dem Rasen unter dem Carillon 1988 (Foto: Bossin)
Damals ahnte keiner der Beteiligten, dass wir als erste Aufgabe die Aufführung des allerschwersten Werkes zu bewältigen hatten! Im Frühling 1988 beauftragte Folkmar Hein den argentinischen Komponisten Ricardo Mandolini ein neues Stück für das bevorstehende Konzert zu schreiben. Mandolini hatte in elektronischen Studios in Genf, Köln, Stockholm und Bourges gearbeitet und mehrere internationale Auszeichnungen für sein elektronisches Schaffen bekommen. Bereits 1978 war er DAAD Stipendiat in Berlin und hatte zwischen 1980 und 1986 in Zusammenarbeit mit Hein mehrere Stücke im Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin produziert. Ich führte ihm das neue Carillon vor und erläuterte dessen musikalische Besonderheiten, und während der folgenden Monate schuf er Vox veterrima, der uralte Ausruf, für Carillon, Elektronik, MIDI-Tastatur und Schlagzeuger. Die ersten beiden Aufführungen fanden am 20. und 21. August 1988 statt im Rahmen von zwei Konzerten mit dem Titel Avantgarde auf dem Carillon. Vox veterrima basiert in erster Linie auf elektronisch verarbeiteten Glockenklängen. Die Mitarbeiter des Studios machten Aufnahmen von den meisten Glocken des Carillons mitten in der Nacht, um die Umweltgeräusche auf ein Minimum zu reduzieren (obwohl der Turm in einer parkähnlichen Anlage neben dem Tiergarten steht, hatten die Techniker trotzdem ständig gegen bellende Hunde, zwitschernde Vögel, lautstarke Passanten und vorbeifahrende Autos und Motorräder zu kämpfen). Im elektronischen Studio ersetzte Mandolini mit Hilfe eines Samplers fehlende oder misslungene Aufnahmen durch Transpositionen der gut gewordenen. Er benutzte diese Reihe von allen 68 Tönen des Carillons um Motiven auf einem Synclavier II zu spielen oder um Geräusche zu erzeugen und schuf mit ihnen drei verschiedene elektronische Tracks. Mit Ausnahme von einigen Pausen laufen sie während der gesamten Aufführung und werden von dem Carillonneur und zwei weiteren Stimmen begleitet, die ursprünglich ein Pianist und vier Schlagzeuger spielten. Mittels einer MIDI-Tastatur steuerte der Pianist die Hämmer auf der Außenseite der Glocken der Automatik (c2 bis c4), und die Schlagzeuger hämmerten auf der Außenseite mehrerer ausgewählter Glocken. Während der Uraufführung im August 1988 spielte ich das Carillon und Mandolini die MIDI-Tastatur während Hein die Elektronik steuerte und vier Studenten als Schlagzeuger wirkten. Die Elektronik war aus drei großen Lautsprechern zu hören, wobei je einer links und rechts vom Turm und der dritte auf derselben Seite und in 20 Meter Höhe im Turm platziert waren. Die Bewegungen der Elektronik von einem Lautsprecher zum anderen erzeugte beeindrückende Raumklänge.
Vox veterrima besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste dauert ungefähr dreizehn Minuten und umfasst die Abschnitte Initia nascendi (Elemente der Entstehung, der Geburt), Ignis ingens (gewaltiges Feuer), Divinum testimonium (göttliches Zeugnis), Praeconium (Verkündigung, Verherrlichung), Concilia populi (Volksversammlung), Intuitio tenebris (düstere Vorahnung) und Calamitas bellum (Kriegsniederlage, Kriegeskatastrophe). Der zweite Teil dauert rund dreieinhalb Minuten und besteht aus den zwei Abschnitten Novum mysterium (neues Geheimnis) und Aestus minantes (drohende Gluten, Fluten, Leidenschaften). Die Form des Werkes ist sorgfältig strukturiert und hat mehrere dynamische Höhepunkte. Der Komponist verwendet verschiedene Kombinationen von elektronischen und instrumental erzeugten Klängen und Geräuschen, um eine Reihe von originellen und phantasievollen Texturen zu schaffen. Die einzelnen Elemente - Arpeggien, Arabesken, Kadenzen, Tonrepetitionen, Tremoli, Akkorde und die aus ihnen entwickelten Motive – werden exponiert und in bestimmten Abständen wiederholt, variiert und weiterentwickelt. Das Werk beginnt mit einem zarten Dialog aus Arabesken und wiederholten Tönen, die sowohl elektronisch als auch auf dem Carillon in höchster Lage erklingen. Während des nächsten Abschnitts Ignis ingens wird der Klangraum allmählich nach unten erweitert, und das erste Hauptmotiv – der wiederholte Akkord a1-c2-as2-c3 – ist an drei verschiedenen Stellen im Carillon zu hören. Praeconium beginnt mit zwei Carillon-Arabesken, denselben, womit sowohl die Elektronik als auch das Carillon am Anfang des Stückes einsetzen. In Concilia populi erklingen zwei weitere Hauptmotive: die Carillon-Arpeggien dis1-h1-des2-ges2-b2-d3 am Anfang und der Elektronik-Akkord Cis-cis-f-a-c1-e1 etwa eine Minute danach. In der Mitte vom Intuitio tenebris kehrt das erste Hauptmotiv zurück, diesmal als eine Figur, die sich aus einer Viertel-, einer punktierten Viertel-, einer Achtel- und zwei Viertelnoten in der Elektronik zusammensetzt (Fußnote 4). Am Ende von Calamitas bellum ertönt es auf den tiefsten Glocken des Carillons und schließt den ersten Hauptteil des Stückes. Vox veterrima endet mit einem vierten Hauptmotiv, einer Reihe von Akkorden, die ständig und immer lauter bis zum dreifachen Forte wiederholt werden. Eine Variante des ersten Hauptmotivs, gespielt vom Carillon und von der MIDI-Stimme, beendet das Werk. Die gewaltige Spannung wird durch eine elektronische Kandenz gelöst, ein Riesenglissando, das das Stück in die Tiefe reißt.
Partiturseite aus "vox veterrima" von Ricardo Mandolini
Vox veterrima ist eine schöne und beeindruckende Komposition. Obwohl Mandolini vorher keine Erfahrungen mit dem Carillon gesammelt hatte, gelang es ihm auf genialer Art und Weise sowohl den Klang des Instruments mit der Elektronik zu verbinden als auch traditionelles kompositorisches Denken (z. B. in Form von leicht erkennbaren, wiederholten Motiven und Elementen), eine phantasievolle Gestaltung der Elektronik und eine aus dem Klang und der Spieltechnik des Instruments abgeleitete Carillonstimme, meisterhaft miteinander zu kombinieren. Die Elektronik besteht aus sich bewegenden und entwickelnden Klängen, aus denen manchmal klar erkennbare Figuren und Motiven sich herauskristallisieren, welche die Carillon-, MIDI- und Schlagzeugstimmen ergänzen und mit ihnen zu einer Einheit verschmelzen. Vox veterrima war der Grundstein zum Berliner Repertoire aus Musik für Carillon und Elektronik und stand seit der Uraufführung mit einer Ausnahme auf dem Programm von jedem der nachfolgenden Konzerte, die zwischen 1988 und 2007 veranstaltet wurden. 2005 wurde das Werk endlich aufgenommen, und der Komponist kehrte nach Berlin zurück, um die Elektronik und MIDI-Stimmen dafür zu überarbeiten. Die Aufnahme dieser Endfassung erschien zusammen mit mehreren anderen Werken auf einer DVD, die anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des Elektronischen Studios der TU Berlin produziert wurde (Fußnote 5) .
Vox veterrima stellt den Carillonneur vor einer großen Herausforderung. Dies ist kein einfaches Carillonstück mit elektronischer Begleitung sondern ein Werk für vier Stimmen, die zusammen konzertieren und ein Dialog miteinander führen. Dabei muss der Carillonneur genau auf die Elektronik und die anderen Stimmen achten. Im Laufe der vielen Aufführungen entwickelte ich eine geeignete Methode, um das recht komplizierte Werk gut einzustudieren und zu spielen. Da alle Stimmen mit der Elektronik genau zur richtigen Zeit zusammenklingen sollen, dient die vollständige Partitur als Spielvorlage, damit der Carillonneur den Verlauf der darin notierten elektronischen Geräusche und übrigen Stimmen verfolgen und seine Einsätze sehen kann. Also wurde die große handgeschriebene DIN-A3-Partitur auf DIN A4 verkleinert, damit die Seiten auf das Notenpult des Carillonspieltisches passten Weil die Noten der Carillonstimme dadurch auch entsprechend klein und schwer zu lesen sind, teilte ich die 53 Seiten der Partitur in fünf Gruppen auf, je nach der Oktavelage der jeweiligen Noten. Jede Gruppe wird über den entsprechenden Tasten platziert. Hat eine Seite Noten in zwei verschiedenen Oktavlagen, dann wird je eine Kopie derselben Seite in jeder der beiden Gruppen gestellt, damit ich rasch zu einer anderen Stelle des Notenpults springen und dort weiterspielen kann. Um die fünf Gruppen auseinanderhalten und die Seiten von jeder Gruppe stets in der richtigen Reihenfolge zusammenstellen zu können, habe ich die Seiten von jeder Gruppe mit Filzstiften unterschiedlicher Farbtöne neu nummeriert, die Seiten der Gruppe in der tiefsten Oktave mit rosa, die nächsten rechts davon mit grün, die in der Mitte des Notenpults mit gelb, die in hoher Lage mit hellblau und die ganz rechts in höchster Lage mit dunkelblau. Beim Üben spiele ich jede Seite zu Ende und lege sie dann rasch beiseite, um auf der darunterliegenden weiterspielen zu können. Wenn es am Ende einer Seite keine Pause gibt, muss ich zwei oder drei Seiten nebeneinander legen, um sie hintereinander abspielen zu können. Wird es notwendig die Gruppe zu wechseln, dient ein Pfeil mit der Farbe der neuen Gruppe am Ende der Seite als Hinweis darauf. Bei alldem muss ich stets darauf achten, irgendwann die bereits gespielten Seiten zu entfernen, damit ich, wenn ich zu einer Gruppe zurückkehre, nicht die alte, sondern die darunterliegende Seite vor mir habe.
Um das Werk einzustudieren, übe ich zuerst die verschiedenen Carillonpassagen einzeln und lerne sie möglichst rasch und auswendig zu spielen, da es bei dem schnellen Tempo des Stückes schwer ist, jede einzelne der klein geschriebenen Noten zu lesen. Dann übe ich Gruppen von Carillonmotiven und schließlich ganze Abschnitte beim raschen Tempo mit nur kurzen Pausen dazwischen. Als nächstes setze ich mir Kopfhörer auf und übe das Zusammenspiel mit der Elektronik, das Umblättern und den Wechsel der Gruppen, zuerst abschnittsweise und zum Schluss von Anfang bis zum Ende des Werkes. Dabei gibt es keine Gelegenheit, Luft zu holen oder das Tempo zu variieren. Bei schwierigen Stellen bekomme ich den Einsatz von einem Klicktrack. Bei all den zusätzlichen Körperbewegungen – das Hin- und Herrutschen auf der Sitzbank, das Entfernen der Notenblätter, der Blickwechsel von einer Gruppe zur anderen - muss sich der Carillonneur trotzdem immer gut konzentrieren und darf sich beim Abspielen der Partitur nicht verlesen. Im Laufe der Zeit musste ich auch einige unspielbare Carillonpassagen etwas vereinfachen, und nach der Uraufführung wurde aus praktischen Gründen auf die Schlagzeuger verzichtet und ein Teil ihrer Stimmen zunächst vom MIDI-Spieler übernommen. Zum Schluss wurden sowohl die Schlagzeug- als auch die MIDI-Stimmen im Studio aufgenommen und der Elektronik als zusätzliche Spuren hinzugefügt, sodass jetzt nur noch ein Carillonneur, ein geeignetes Carillon, die Elektronik und die entsprechenden Studiotechniker nötig sind, um Vox veterrima aufführen zu können.
Das nächste Stück, das in das Berliner Repertoire von Musik für Carillon und Elektronik aufgenommen wurde, stammt von dem amerikanischen Komponisten John Cage und wurde am 20. Juni 1993 als Teil des musikalischen Beiprogramms USArts zu der Ausstellung Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert in Berlin zum ersten Male aufgeführt. Während dieses Konzerts erklangen die fünf fortlaufend nummerierten Stücke, die Cage Music for Carillon nannte und zwischen 1952 und 1967 zu Papier brachte, sowie Bearbeitungen der von Cage bewunderten Klavierwerke Erik Saties. Am 5. September des vergangenen Jahres hatte ich im Auftrag der Berliner Festspiele GmbH anlässlich des 80. Geburtstags des gerade gestorbenen Komponisten ein Gedenkkonzert mit den ersten drei Stücken der Music for Carillon im Rahmen der Berliner Festwochen gegeben. Da das vierte davon Elektronik verwendet, konnten nun Dank der Mitwirkung des Elektronischen Studios der TU erstmals in Berlin alle fünf Stücke komplett dargeboten werden. Allerdings schrieb Cage die ersten vier nicht für ein Carillon mit Stockspieltisch sondern für ein Glockenspiel mit elektrischer Klaviertastatur. In den USA werden solche Instrumente mangels einer besseren Bezeichnung auch Carillons genannt, und Cage widmete sein zweites und drittes Stück nicht einem Carillonneur sondern dem Pianisten David Tudor. Solche Glockenspiele haben oft sogar statt Glocken nur kleine elektronisch verstärkte Klangstäbe, und Cage konzipierte sein viertes Stück ausdrücklich für ein solches electronic instrument. Nur der für ein niederländisches Carillon typische Ambitus von vier Oktaven ohne die ersten beiden Halbtöne cis und dis und die Formulierung for each of 47 bells deuten darauf hin, das Cage sein fünftes Stück für ein echtes Carillon mit Stockspieltisch komponierte. Dennoch sind auch die ersten vier auf einem richtigen Carillon zu spielen.
Die 1961 entstandene dreioktavige Fassung von Music for Carillon No. 4 besteht, wie ihre drei Vorgänger, aus Einzelnoten und Notenpaaren, die auch Clusters bilden (Fußnote 6). Da der Klang eines Carillons und Glockenspiels nicht gedämpft wird, sondern von alleine vergeht, schrieb Cage alle Töne als ganze Noten. Music for Carillon No. 4 benutzt Live-Elektronik: mit Hilfe eines Mikrophons und Lautsprecher werden bestimmte Passagen des Carillons entweder direkt verstärkt oder rückgekoppelt. Dazu ertönt ein dumpfer elektronisch erzeugter hölzern klingender Schlag in unregelmäßigen Abständen (Fußnote 7). Das Werk ist der Gegensatz zu Mandolinis Vox veterrima: nicht kompositorisches Handwerk sondern das Zufallsprinzip ist die Grundlage der Music for Carillon No. 4. Während Cage 1954 die Music for Carillon No. 3 als Krebsumkehrung der Music for Carillon No. 2 schuf, gab er bei der sieben Jahre später geschriebenen Music for Carillon No. 4 bereits jegliche herkömmliche Kompositionstechnik auf. Das Stück hat weder Takt noch Metrum, lediglich der graphische Abstand einer Note zur vorhergehenden bestimmt den Zeitpunkt des Anschlags. Rhythmen und melodische Gesten sind Zufallsprodukte. Die willkürliche Tonordnung entspringt Cages mystisch gefärbten Verehrung der Natur. Statt die Töne des Stücks von Harmonien, Skalen oder Tonreihen abzuleiten, schuf er die Partitur, indem er eine durchsichtige Schablone auf einen Sternenatlas legte und dort, wo Gestirne verzeichnet waren, Punkte auf die Notenlinien setzte. Diese im voraus total festgelegte abstrakte Anordnung des Notenmaterials ergab wie bei der seriellen Technik ein musikalisch völlig zufälliges Resultat, das nicht einmal die charakteristische Kontinuität der seriellen Satzstruktur hat. Das Werk hat somit keinerlei Bezüge zu musikalischen Traditionen, zu Tonsystemen und formalen Zusammenhängen. Das Endprodukt gleicht einer sinnlosen Folge willkürlich aneinandergereihter Buchstaben. Was bleibt einer Aufführung der Music for Carillon No. 4 an Substanz übrig? Die Natur? Trotz der Verwendung eines Sternenatlasses als kompositorischer Vorlage ist von einer Verbindung zur Natur nichts zu spüren. Denn im Gegensatz zu Karlheinz Stockhausens Tierkreis, der die überlieferten Eigenschaften der zwölf Tierkreiszeichen in Form von Charakterstücken auf musikalisch fassbarer Weise darstellt, gibt es nichts in Cages Stück, was eine hörbare Brücke zwischen den Noten und deren zugrundeliegenden Sternbildern schlägt. Stattdessen rückt die von Cage intendierte freie Entfaltung des reinen Klangs ins Zentrum der Aufführung. Der ungewöhnliche Klang des Carillons in Berlin-Tiergarten mit seinen schweren Glocken übt eine große Faszination auf die Zuhörer aus und wird durch die Rückkoppelungseffekte von Cages Stück noch verstärkt. Dazu kommt die individuelle Interpretation, die jeder Zuhörer wegen seiner eigenen, nicht abzulegenden musikalischen Bildung und Erfahrungen auf diese Musik ohne jeglichen herkömmlichen musikalischen Sinn projiziert, wie man in der abstrakten Form einer Wolke am Himmel ein Phantasiebild mit konkreter Gestalt sieht. Schließlich ist die "Ereignishaftigkeit" der Aufführung, ihre Wirkung als ein verrücktes Geschehnis, ein wichtiger Teil von Cages Music for Carillon No. 4. Diese "Ereignishaftigkeit" entspringt dem Geist der Happenings und der Fluxus-Bewegung, jener von Dadaismus abgeleitete Kult des Absurden als Verneinung des Kanons der europäischen Kunsttraditionen wie überhaupt alles Konventionelle, der seinen Höhepunkt während der Sechziger Jahre erreichte und woran Cage zur gleichen Zeit teilnahm als er die Music for Carillon No. 4 schrieb. Just wegen ihrer ikonoklastischen, durch herkömmliche Kategorien nicht zu erfassenden Substanz erzeugt die Music for Carillon No. 4 das Gefühl der musikalischen Willkür und der von allen Traditionen befreiten Sinnlosigkeit. Cages Ruf als Komponist bizarrer Werke umhüllt die Inszenierung dieses absichtlich unverständlichen Ereignisses mit der Aura eines verrückten Happenings. So begeistern sich die Menschen für die Aufführung einer Komposition von Cage wie für den Vortrag eines Lautgedichts von dem Dadaisten Kurt Schwitters.
Wie Vox veterrima ist auch Cages Music for Carillon No. 4 ist eine spieltechnische Herausforderung für den Carillonneur – doch diesmal von einer anderen Art. Weil dem Stück jegliche musikalischen Strukturen und Zusammenhänge fehlt, ist es sehr schwer auswendig zu lernen. Benutzt man aber die Noten, so hat man nur 15 Sekunden Zeit, um jedes der 37 cm langen Systeme zu spielen, die manchmal Clusters mit bis zu 32 Noten pro Sekunde enthalten. Dabei muss der Carillonneur in diesem Zeitraum auch erheblich größere Abstände überwinden als der von Cage vorgesehene Pianist, denn auf dem Carillonspieltisch ist der Oktavabstand doppelt so groß wie auf einem Klavier. Währenddessen ist immer wieder ein Blick auf die Stoppuhr zu werfen, um die Carillonmusik mit den elektronischen Schlaggeräuschen zu koordinieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Stück zu spielen. Entweder setzt man die Partitur notengetreu um oder man interpretiert sie frei. Um jeden einzelnen Ton anschlagen zu können, müssen Carillonneur und Elektronik ein erheblich langsameres Tempo als vorgeschrieben nehmen, was den Gesamteindruck des Stückes jedoch verfälscht. Oder man hält sich genau an das vorgegebene Tempo und, anstatt vergeblich zu versuchen, die dabei unspielbaren Notenhaufen genau wiederzugeben, lässt sich von ihnen zum spontanen Improvisieren von Passagen anregen, deren Klang und Gestus den ohnehin nach dem Zufallsprinzip aufgezeichneten ähneln. Da Cage keine melodischen, harmonischen, rhythmischen oder formbildenden Kompositionstechniken in diesem Stück benutzte, wird dabei die musikalische Substanz nicht verändert oder verfälscht. Die durch Sternenhaufen willkürlich festgelegten Noten werden lediglich durch willkürlich improvisierten ersetzt. Dadurch bekommt die Aufführung eine für die Happenings zweite charakteristische Eigenschaft, nämlich die der spontanen Einmalig- und Unwiederholbarkeit. Allerdings ist bei wiederholten Aufführungen diese tatsächliche Einmaligkeit nicht zu hören, denn sie entsteht nicht durch eine Improvisation über ein Thema oder prägnante Einfälle, die sich dem Zuhörer einprägen und es ihm ermöglichen, die verschiedenen Aufführungen miteinander zu vergleichen und dadurch deren jeweilige Einmaligkeit bewusst zu werden. Stattdessen nivelliert die unendliche Variabilität der improvisierten Klanggesten die Unterschiede zwischen den Varianten und hebt dadurch deren erkennbare Identität und Wirkung als unterschiedliche Versionen auf. Bei wiederholten Aufführungen des Werkes wird das Gefühl der Einmaligkeit nicht stärker sondern schwindet, die Varianten rufen paradoxerweise den Eindruck der Gleichheit hervor, wie die Unterschiede zwischen immer feineren Abstufungen einer unendlich großen Farbskala, die allmählich nicht mehr zu erkennen sind.
1998 wurde wieder ein Konzert für Carillon und Elektronik veranstaltet, und diesmal beauftragte ich den niederländischen Komponisten und zukünftigen Vorsitzenden des niederländischen Komponistenverbands, Geurt Grosfeld, mir ein Stück dafür zu schreiben. 1978 hatte ich eine Aufführung seines Stückes Aegon für Carillon und Elektronik auf dem zweiten Carillon Weltkongress in Amersfoort, den Niederlanden, beigewohnt. Diesmal lieferte Grosfeld ein langes Werk mit dem Titel Greeting the Supersonic. Es besteht aus einer Reihe von virtuosen und komplexen Passagen für Carillon, begleitet von Elektronik, die u. a. von lang andauernden, leisen Tönen, Kratzgeräuschen, schnellem, leichtem Trommeln und Glockentönen abwechselnd Gebrauch macht. Das Konzert fiel jedoch wegen des schlechten Wetters aus, und daraufhin stellte der Komponist eine Fassung für Solo-Carillon fertig, die ich am 19. September des folgenden Jahres uraufführte.
Ein weiteres Konzert fand 2001 statt, und diesmal stand ein neues Stück des Amerikaners Ed Osborn im Mittelpunkt. Osborn, geboren 1964 in Helsinki, Finnland, wuchs in Kalifornien auf und machte sich durch Ausstellungen, Vorträge und Kompositionsaufträge einen Namen in den USA, Kanada, Europa, Australien und Südamerika. Seine Installationen, Klangskulpturen, Musik für Rundfunk und Video, Performances und öffentliche Projekte zeugen von einem ausgeprägten Gefühl für Raumkomposition, Klang und Bewegung verbunden mit einem minimalistischen und manchmal verspielten, ernsten oder rätselhaften Umgang mit dem jeweils ausgewählten Klangmaterial. Seine Carillon-Komposition Elevation ist sehr leise und dauert rund elf Minuten. Über die Elektronik schreibt Osborn, sie ist eine Folge von Akkorden, die aus Sinustönen bestehen und sich sehr langsam verändern. Die Carillonstimme dient in erster Linie dazu, den Kontrast zwischen den konstanten Tonhöhen der einzelnen Carillonglocken und den wechselnden Harmonien zu verstärken. Besonders die Abschnitte, wo das Carillon einen Akkord mehrmals hintereinander anschlägt, sollen die Aufmerksamkeit auf die sich langsam verändernden Schwebungen lenken, die durch das Zusammenklingen von Carillon und Elektronik entstehen (Fußnote 8). Elektronische Töne erzeugen Schwebungen, die entstehen und allmählich wieder verschwinden. Dazu spielt der Carillonneur eine Reihe kurzer, einfacher, langsamer und mehrmals wiederholter Motive aus Vierteln und Achteln sowie vereinzelte Akkorde aus Ganzen, die zwischen dem kleinen a und h1 angesiedelt sind und deren Umfang höchstens eine None, jedoch meistens kleinere Intervalle wie Septimen, Sexten, Quinten und Quarten beträgt. Elevation ist das ideale Anfängerstück von Musik für Carillon und Elektronik. Es bedarf nur wenig Vorbereitung und kann mit Hilfe einer Stoppuhr vom Blatt gespielt werden. Im Bezug auf die Programmgestaltung bietet der leise Klang dem Zuhörer eine willkommene Abwechslung zu dynamischen und bewegten Werken wie Vox veterrima und dient als eine ruhige, meditative Einlage.
Für das nächste Konzert im 2003 lieferte der italienische Komponist, Autor, Gitarrist und Performancekünstler Stefano Giannotti ein Stück mit dem Titel Paesaggio con campane. Giannotti, der bereits 1998 als DAAD Stipendiat in Berlin gearbeitet hatte, schreibt Orchesterstücke, Lieder, Kammermusik und Musik für Ballet und Rundfunk. Seine Werke wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet wie dem Karl-Sczuka-Preis des Südwestrundfunk Baden-Baden 2002 und auf mehreren Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen 2002 aufgeführt. Paesaggio con campane für Carillon und Elektronik besteht aus Phrasen und Abschnitten, die stilisierte Läutemotive (wiederholte Töne, Intervalle und Motive), Arpeggien und Arabeske verwenden und in unregelmäßigen Abständen auf dem Carillon gespielt werden. Den Schluss bildet ein vierstimmiger Satz im Stil einer polyphonen Kadenz aus der Barockzeit. Die Elektronik gliedert sich in drei Teile mit dazwischenliegenden +kurzen Pausen und setzt sich sowohl aus elektronischen Geräuschen als auch aus alltäglichen Klängen wie Glockenläuten und dem Lachen von Kindern zusammen. Den Anweisungen des Komponisten zufolge kann das Werk jedoch auch ohne Elektronik aufgeführt werden.
Neben der Uraufführung von Giannottis Komposition erfolgte auch die europäische Erstaufführung eines Zyklus von sechs Stücken mit dem Titel Six Treatments for Carillon, der aus der Feder des amerikanischen Komponisten Stephen Rush stammen. Rush legte sein Doktordiplom an der Eastman School of Music in Rochester, New York, ab und ist Professor für Musik an der University of Michigan. Als Leiter des Digital Music Ensembles hat er viele Werke von Komponisten wie John Cage, Philip Glass und LaMonte Young aus der Taufe gehoben. Er selber hat drei Opern sowie viel Kammer-, Orchester- und Tanzmusik geschrieben. 1988 schuf er die Three Etudes für das Grand Carillon der University of Michigan, und 2001 folgten die Six Treatments for Carillon. Sie bestehen aus den sechs kurzen Sätzen First Treatment, Tilted Waltz, Cloud Bowls, River Teeth, Homage to Ives, und Bolts. Die beiden Ecksätze sind minimalistisch angelegt: im First Treatment erklingen kurze Motive und Phrasen neben einem Klangteppich aus ständig wiederholten Achteln, im Bolts besteht der Klangteppich aus wiederholten Achtelnotenduolen, -triolen, -quartolen und -quintolen, deren rasche Vorwärtsbewegung von einer Reihe Ganzenotenterzen zweimal unterbrochen wird. Der zweite Satz ist ein schräger, lustiger Walzer, und es folgen zwei naturbezogene Stücke. Cloud Bowls ist ein langsamer Satz mit der Tempoangabe Langsam, zeitlos und ungleichmäßig. Der Carillonneur spielt eine Reihe Zusammenklänge aus Ganzenoten, Rush gibt dazu folgenden Kommentar: Es dreht sich darum nicht die Musik sondern die Natur zu erleben. Cloud Bowls sollte die Menschen dazu bringen ihr Tempo zu verlangsamen, gezwungenermaßen zu meditieren (Fußnote 9). Rush beschreibt River Teeth als die Bäume, die im Winter und beim Tauen im Frühjahr umstürzen. Sie dienen Forelle und Barsch als Nahrung und sind eine Gefahr für mich beim Kanufahren (Fußnote 10). Dieses Bild setzt er musikalisch um als abwechselnde Folgen von Zusammenklängen aus halbe und ganze Noten – Terzen, Sexten, Dezimen und Akkorden – und schnellen einstimmigen Achtelnotenpassagen. Homage to Ives ist ein langsames Stück. Langgezogene einstimmige Phrasen aus Viertelnoten wechseln sich mit Folgen einzelner Töne und Intervalle aus ganze Noten ab. Zu diesen Stücken konzipierte Rush eine Live-Elektronik, die auf einem wichtigen Aspekt des Carillons basiert, nämlich der Tatsache, dass die Besucher eines Carillonkonzertes den Musiker und seine Körperbewegungen beim Spielen nicht sehen können. Dazu hängen die Glocken fest, bleiben regungslos. Der Ursprung der Klanggewalt bleibt dem Zuhörer verschlossen, ist mit dem Auge nicht nachvollziehbar. Ich war der Meinung, dass das visuelle Problem des unsichtbaren Spielers durch eine Veränderung des Carillonklanges verstärkt und betont werden soll. Dies schafft einen optisch störenden und amüsanten logischen Bruch, das Gefühl von ‚Ich glaube nicht, was ich höre, es entspricht nicht dem, was ich sehe.’ In Six Treatments for Carillon hört das Publikum zwar, sieht aber nicht, wie der Klang des Carillons sich verändert mit Hilfe von Filtern, die ich und Chris Peck entwickelten. Mikrophone leiten den Klang des Carillons durch Computerfilter, und die gefilterten Klänge werden auf subtile Weise verstärkt, um den natürlichen Klang des Carillons zu ergänzen. Kein Klang wird nur vom Computer oder Synthesizer, sondern nur vom Spieler und Carillon zusammen erzeugt. Das Ergebnis ist eine Kombination aus den akustischen und den veränderten Klängen des Carillons (Fußnote 11). Es ist auch ein visuelles Stück. Das Publikum sieht die Lautsprecher nicht, sondern es sieht ein „normales“ Carillon und hört aber etwas ganz anderes. Das Stück ist stellenweise ‚hübsch’, ‚aggressiv’, ‚beruhigend’ und ‚markant’. Aber...dennoch klingt es die ganze Zeit wie ein Carillon (Fußnote 12). Das Resultat ist ein oft dichtes Netz aus normalen akustischen Carillonklängen und darauf folgenden elektronisch verfremdeten Versionen, die manchmal sehr stark schweben und schräg und blechern klingen.
Carillonturm 2005 (Foto: Hein)
Zwei weitere Werke für Carillon und Elektronik entstanden anlässlich eines Konzerts im Juli 2005. Das erste schuf die italienische Tonkünstlerin Lucia Ronchetti, die Klavier, Komposition und elektronische Musik in Rom und Paris und Computermusik am IRCAM Studio in Paris studiert hatte. Von 1987 bis 1998 leitete sie das Festival Animato in Rom. Sie erhielt viele Stipendien und Preise, u. a. Cité Internationale des Arts, Paris, Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, Artist in Residence of the Mac Dowell Colony, Peterborough, USA und Composer in Residence of the Forum Neues Musiktheater der Staatsoper in Stuttgart. 1997 arbeitete sie im Elektronischen Studio der TU Berlin, 1999 im Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg und 2005 in Berlin als DAAD-Stipendiatin. Ronchettis Stück für Carillon und Elektronik Come un acciar che non ha macchia alcuna – Studio sulla luna da Ludovico Ariosto basiert auf einem Gedicht des italienischen Schriftstellers Ludovico Ariosto, das die Geschichte einer phantastischen Reise zum Mond auf dem Rücken eines Greifs erzählt. Neben der Elektronik erklingen Aufnahmen eines Sprechers, der Auszüge aus Ariostos Gedicht vorträgt. Das Carillon setzt mit einem einzelnen, tiefen Ton ein, der in bestimmten Abständen wiederholt wird, und es folgen einige chromatische kandenzartige Gesten. Das Stück gipfelt in einer Passage, die sich zuerst abwärts bewegt bis sie einen dynamischen Höhepunkt auf den tiefsten Glocken erreicht, gefolgt von einer Reihe aufsteigender chromatischer schneller Läufe aus jeweils drei Noten. Danach wird eine Figur aus den beiden Tönen h1 und c2 in bestimmten Abständen fortwährend wiederholt, begleitet zuerst von einem absteigenden Tremolo und dann von zwei kadenzartigen Figuren aus einer ständig wiederholten Reihenfolge von einigen eng beieinanderliegenden Tönen. Zum Schluss steigt eine chromatische Tonleiter aus halbe Noten bis zum tiefsten Ton des Carillons herab, begleitet von kurzen Figuren, die wie Fragmente der Kadenzen wirken und deren Spannung allmählich auflösen. Die Elektronik besteht aus sehr tiefen und sehr hohen Glocken- und Pfeiftönen, die in bestimmten Abständen mehrmals vereinzelt erklingen und jedes Mal von einem langgezogenen diffusen Gemisch aus weichen, zarten, leisen, langsam vergehenden Klängen begleitet werden, sowie aus Auszügen aus Ariostos Gedicht, die im Flüsterton vorgelesen werden. Die Elektronik wirkt dabei unwirklich, unheimlich, gespenstisch, märchenhaft.
Während dieses Konzerts wurde auch ein Zyklus von drei kurzen Stücken für Carillon und Elektronik von dem argentinisch-italianischen Komponisten Mario Verandi uraufgeführt. Verandi hatte Musik- und Computerwissenschaften von 1979 bis 1985 in Buenos Aires und Rosario, Argentinien und von 1986 bis 1989 in Barcelona, Spanien am Phonos Electro-Acoustic Music Studio studiert. 2000 war er Stipendiat des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin, im darauf folgenden Jahr wurde er an der University of Birmingham, England in Komposition zum Dr. Mus. promoviert. Von 2003 bis 2004 hatte er einen Lehrauftrag an der Freien Universität Berlin. Verandi war Composer in Residence an den Studios von La Muse en Circuit in Paris, im Césaré Studio de Création Musicale in Reims, am ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe) in Karlsruhe und an den Cuenca Electroacoustic Studios in Spanien. Zu den Preisen und Auszeichnungen, die er bisher erhielt, zählen u.a. den Bourges International Electroacoustic Music Award in Frankreich, den Musica Nova Award in Prag, den CIEJ Musics Electronics Award in Barcelona, den Prix Ars Electronica in Linz, den Stockholm Electronic Art Award, SGAE Electroacoustic Music Award (Spanien) und den ZKM-Kompositions-Preis im Rahmen der Europäischen Glockentage 2004. Verandis Œuvre umfasst elektronische Musik, Instrumentalwerke sowie Musik für Tanzstücke, Filme, Bühnenwerke und Rundfunk. Das New Yorker Label EMF (Electronic Music Foundation) hat Verandis Musik auf der CD Distant Shores (2001) veröffentlicht. Seine Komposition Acariciando lo áspero für das Berliner Carillon und Elektronik hat drei kurze Sätze. Die Elektronik greift z. T. auf Klangmaterial aus seinem für das ZKM geschaffene Stück Bellscape zurück, das auf Glockenaufnahmen, die Verandi in Barcelona, Berlin und Birmingham selber machte, sowie auf den Aufnahmen vom Carillon in Berlin-Tiergarten aus dem Klangarchiv des Elektronischen Studios der TU Berlin basiert. In Acariciando lo áspero erklingt die Elektronik fast durchgehend und ist sehr transparent. Der Titel „Das Rauhe streicheln“ bezieht sich auf das Spielen von Glissandi auf einer Klaviertastatur – also auf die Erzeugung von unreinen, rauen Klängen mit einer zarten Handbewegung. Dementsprechend besteht dieses Werk aus leichten, zarten, diffusen, langgezogenen und manchmal herauf- und herabgleitenden Klängen, ergänzt durch vereinzelte Glockenschläge und wirbelnde Töne. Dazu spielt das Carillon kurze einstimmige Motive, Phrasen, Figuren, Läufe, Arpeggien, Intervalle oder Akkorde in unregelmäßigen, kurzen Abständen. Es entsteht ein Dialog zwischen Carillon und Elektronik; der Carillonneur muss wie bei den Stücken von Giannotti, Osborn und Ronchetti neben dem Partiturlesen stets einen Blick auf eine Stoppuhr richten. Während Osborns Elevation das ideale Anfangerstück für Carillon und Elektronik darstellt, gehören die drei kurze und leichte Sätze von Acariciando lo áspero zum nächsten Schwierigkeitsgrad von Werken dieser Gattung, denn die Spielfiguren sind weitaus komplexer und länger als die von Elevation und der Carillonneur muss mit der Elektronik genau zusammenspielen.
Partiturseite aus "Acariciando lo áspero" von Mario Verandi
Das jüngste Konzert mit Musik für Carillon und Elektronik in Berlin-Tiergarten fand im August 2007 statt und begann mit der Uraufführung einer Komposition von dem deutschen Tonkünstler Franz Martin Olbrisch. Olbrisch legte sein Diplom im Hauptfach Komposition an der Hochschule der Künste Berlin 1985 ab und erhielt bisher zahlreiche Kompositionspreise und Stipendien, u. a. von der Villa Serpentara in Olevano 1985, dem ZKM in Karlsruhe 1992/93, der Heinrich-Strobel-Stiftung in Freiburg 1998, der Paul Sacher Stiftung in Basel 2001, der Villa Aurora in Los Angeles 2003 und zum Schluss von der Cité Internationales des Arts in Paris 2006. Seit 1988 hat er einen Lehrauftrag für Komposition und Studiotechnik an der Universität der Künste Berlin, 1994, 2004 und 2006 war er Dozent bei den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und seit 1999 unterrichtet er Komposition am Elektronischen Studio der TU Berlin. Werke Olbrischs wurden aufgeführt u. a. bei den World Music Days in Yokohama und Stuttgart, den Donaueschinger Musiktagen, den Wittener Tagen für neue Kammermusik, dem Festival international des Musiques experimentales in Bourges, der International Computer Music Conference (ICMC) und dem VIPER-Festival in Basel. Zu den Interpreten seiner Werke zählen Ensemble wie das Radio-Sinfonieorchester des SWR, das HR-Sinfonieorchester, das Arditti String Quartet und das Ensemble Recherche.
Sein Auftragswerk für Grand Carillon und Elektronik ist ein zweiteiliges Stück mit dreizehn Seiten. Der Titel Curved Ringing (Gebogenes Läuten) bezieht sich auf die englische Kunst des Glockenläutens mit dem Namen change ringing. In dieser Komposition gibt es ein einfaches Model des change ringing mit 11 Glocken. Die Permutationen verlaufen nach den Regeln des change ringing, also ohne Wiederholung und jede Glocke wandert immer nur um maximal einen Platz. Dazu kommt dann der curved-Anteil. Das Register und die Auswahl der 11 einzelnen Glocken werden ständig "verbogen". In sinusartigen Wellen bewegen sich die Permutationen über das Register des Carillon. Daher sieht das Ergebnis dem change ringing so gar nicht ähnlich. Um das Ganze spielbar zu machen, wechselt sich das Carillon mit dem Tonband bei den einzelnen Glocken ab. Im zweiten Teil geschieht das gleiche, nur dass die Anschläge zu Akkorden zusammengefasst wurden (Fußnote 13). Das Stück beginnt mit kurzen Sechzehntelnotenfiguren, die allmählich von der viergestrichenen zur großen Oktave herabsteigen und durch das Klangvolumen der immer größer werdenden Glocken an Stärke und Kraft gewinnen. Gleichzeitig erweitert sich der Tonumfang der Motive, der anfänglich aus kleineren Intervallen besteht, bis er bald manchmal bis zu zweieinhalb Oktaven beträgt. Danach verkleinern sich die Figuren allmählich, bis sie nur noch in der eingestrichenen Oktave erscheinen und zum Schluss aus einem einzigen rasch wiederholten Ton bestehen. Im Laufe des folgenden Accelerando steigen die Motive hinauf in die zweigestrichene Oktave und erweitern sich bis sie manchmal eine Oktave umfassen, schränken sich jedoch abermals zunehmend wieder ein, bis der Abschnitt mit einem rasch wiederholten e2 schließt. Der zweite Teil von Curved Ringing hat ein langsames Tempo und besteht aus einer Reihe von Viertelnotenakkorden. Jede Reihe beginnt stets mit einer kleinen Sekunde und fügt nach und nach darunterliegenden Noten hinzu, bis sie am Ende komplexe chromatische Zusammenklänge von bis zu zweieinhalb Oktaven bildet. Jede neue Reihe setzt mit einem höheren Ton ein, bis sie d3 erreichen. Dabei werden die Reihen immer kürzer und deren Tonumfang wird immer kleiner, bis das Werk mit einer einzigen kleinen Sekunde schließt. Die Elektronik von Curved Ringing besteht aus elektronisch verarbeiteten Glockenklängen, die die Töne des Carillons ergänzen und die Permutationen dessen change ringing-Sequenzen vervollständigen. Da der Carillonneur das Werk mit Hilfe eines Klicktracks, der das jeweilige Tempo angibt, spielen kann, ist es – anders wie bei Vox veterrima - nicht notwendig für ihn, die Elektronik während der Aufführung mitzuhören und darauf zu reagieren. Wie Mandolinis Vox veterrima und Ronchettis Come un acciar che non ha macchia alcuna – Studio sulla luna da Ludovico Ariosto gehört Olbrischs Curved Ringing zu den Stücken, die eine große spieltechnische Herausforderung darstellen.
Bei der Aufführung dieser Werke ist auf Folgendes zu achten: mit Ausnahme von Lucia Ronchettis Come un acciar che non ha macchia alcuna, die vom Verlag Edizioni Musicali RAI TRADE in Italien und Stephen Rushs Six Treatments for Carillon, die von der Guild of Carillonneurs in North America veröffentlicht wurden, sind sämtliche Partituren nur von den Komponisten oder von mir und die Elektronik vom Komponisten oder dem Elektronischen Studio der TU Berlin erhältlich. Eine fertig ausgearbeitete Partitur von Vox veterrima, die sämtliche nachträglich durgeführte Änderungen und Verbesserungen enthält, muss noch erstellt werden. Mit Ausnahme von Elevation setzen alle Stücke ein Grand Carillon voraus, das mit Pedalen sowohl in der großen Oktave als auch manchmal bis zu c2 sowie mit Tasten bis zur g4 oder manchmal höher ausgestattet ist, wobei im Falle von Greeting the Supersonic, Paesaggio con campane und Acariciando lo áspero nur wenige Töne außerhalb des Umfangs eines vieroktavigen Standardcarillons (kleines c bis c4) liegen. Vox veterrima, Come un acciar che non ha macchia alcuna und Curved Ringing machen wiederum mehrfach Gebrauch vom großen Gis-Pedal. Stehen die Lautsprecher auf dem Erdboden, dann sollte das Carillon wenn möglich nicht zu weit von ihnen entfernt in einem niedrigeren Turm hängen.
Die Konzerte mit Carillon und Elektronik fanden bisher immer großen Anklang in Berlin, und es ist zu hoffen, dass diese Arbeit nicht nur dort sondern auch an anderen Orten fortgesetzt werden kann.
* Werke für Carillon und Live-Elektronik
+ Uraufführung
alle Konzerte mit dem Carillonneur Jeffrey Bossin
20. und 21. August 1988
7. Juli 1991
20. Juni 1993
25. Juni 1995
15. Juli 2001
29. Juni 2003
3. Juli 2005
5. August 2007
(Fußnote 1) Ein Grand Carillon hat mindestens 53 Glocken, einen Bourdon mit dem Schlagton A° oder tiefer und eine Pedalklaviatur, die sich vom großen G bis mindestens a1 erstreckt. Ausführliche Informationen über das Grand Carillon in Berlin-Tiergarten und seine Entstehung stehen in Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam, Berlin 1991.
(Fußnote 2) Die Kompositionen für Solocarillon und für Carillon und herkömmliche Musikinstrumente sind Thema des Artikels
Jeffrey Bossin: Looking into Clouds: Two Decades of New Music for the Carillon in Berlin-Tiergarten. Gdánsk XV World Carillon Congress (2007), Gdánsk, Polen.
(Fußnote 3) Dieser Artikel ist Folkmar Hein gewidmet, dessen Unterstützung, Mitarbeit und Begeisterung die Veranstaltung dieser Konzerte ermöglichte.
Mein Dank gilt ebenfalls der Initiative Neue Musik Berlin e. V., die die Konzerte 1995, 2001, 2203, 2005 und 2007 förderte.
(Fußnote 4) Ursprünglich erschien diese rhythmische Variante des ersten Hauptmotivs bereits in dem Abschnitt Concilia populi etwa eine Minute nach dem Elektronikakkord. Dort war es ein drittes Motiv in Form des MIDI-Akkords c1-d1-g1-h1-cis2-dis2-fis2-ais2, der auf den großen Terzen g-h und fis-ais basierte. Mandolini tilgte es zusammen mit jenem Teil der MIDI-Stimme während seiner Überarbeitung des Stückes 2005.
(Fußnote 5) Die DVD ist erhältlich von electroCD.
(Fußnote 6) 1966 schrieb Cage auch eine zweioktavige Fassung der Music for Carillon No. 4.
(Fußnote 7) Bei einer Aufführung auf dem vorgesehenen elektrischen Glockenspiel kann der Musiker das Geräusch des Holzschlages durch das Treten eines an der Klaviertastatur dafür angebrachten Pedals selber produzieren und verstärken lassen. Wird das Stück aber auf einem Carillon gespielt, so werden die Geräusche von der Studiotechnik erzeugt, weil der Carillonneur seine Füße benötigt, um die Pedale des Stockspieltisches zu bedienen.
(Fußnote 8) The tape part of this piece contains a set of slowly drifting chords made up from sine tones...The harmonies on the tape slide around very slowly. The carillon part is primarily intended to work with this background so that the gradual changes in harmony are highlighted against the steady pitches of the carillon. In particular, sections of the piece where a single chord is repeated several times are intended to foreground the slowly changing beating patterns set up between the pitches from the carillon and the ones on the tape.
Schriftliche Erläuterung des Komponisten zum Werk, 13. Juli 2001. Übersetzung vom Verfasser
(Fußnote 9) It is about experiencing nature, not the music. Cloud Bowls is there to slow people down. Forced Meditation. Email von Stephen Rush an Jeffrey Bossin, 18. April 2003.
Übersetzung vom Verfasser.
(Fußnote 10) River Teeth are the trees that fall in the winter and during the thaw. They provide food for Trout/Bass, and danger for me, in my canoe.“ Email von Stephen Rush an Jeffrey Bossin, 13. April 2003.
Übersetzung vom Verfasser.
(Fußnote 11)...I felt the visual problem of not seeing the performer should be amplified and accentuated by the manipulation of the sound of the carillon itself. This effect creates a visually disturbing and amusing synaptic disconnect; the sense of „I can´t believe what I´m hearing, it doesn´t match what I´m seeing“. In Six Treatments the audience hears, but does not see, the modulation of the sound of the carillon, through filters designed by myself and Chris Peck Microphones send the acoustic sound of the carillon through compputer filters, then the filtered sounds are subtly amplified to compliment the natural sound of the carillon. No sound is produced by a synthesizer or a computer alone, all sounds are generated by the performer and the carillon. The result is a combination of acoustical sound and altered (treated) sounds of the carillon.
Text zur CD Six Treatments for Carilllon by Stephen Rush, 2002. Übersetzung vom Verfasser.
(Fußnote 12) ...it's a visual piece as well. The audience doesn't SEE the speakers... So...they see a "normal carillon", but hear something quite different. The piece is "pretty", "abrasive", "restive" and "arresting" in parts. But ...it really sounds like a carillon the whole time.
Email von Stephen Rush an Jeffrey Bossin, 14. März 2003. Übersetzung vom Verfasser.
(Fußnote 13) Email von Franz Martin Olbrisch an Jeffrey Bossin, 27. November 2007.