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Der Arbeitskreis für elektronische Musik 

Arbeitskreis für elektronische Musik nannte sich die Gruppe, die von 1961-74 die Arbeit im Elektronischen Studio der Technischen Universität in jeder Hinsicht maßgeblich bestimmte. Sie bestand aus dem Leiter des Studios Fritz Winckel, dem Diplom-Ingenieur Manfred Krause, dem Komponisten Boris Blacher und dem Tonmeister Rüdiger Rüfer. Jedes dieser vier Kernmitglieder des Studios wirkte auf seine spezielle Weise entsprechend seiner beruflichen Ausrichtung und seinem Charakter.

Der "Arbeitskreis für elektronische Musik" (von li): Winckel, Blacher, Krause, Rüfer (sitzend)

»Begriffsbestimmung«

Formiert hat sich der "Arbeitskreis" in einem allmählichen Prozeß, der praktisch schon 1953, im Gründungsjahr des Studios, einsetzte. Denn sowohl Boris Blacher als auch Manfred Krause und Rüdiger Rüfer standen schon seit dieser Anfangszeit lose mit dem Tonstudio in Kontakt. Eine feste institutionelle Bindung und damit eine Kontinuität der kompositorischen Arbeit entstand daraus allerdings erst, als an Boris Blacher 1961 an der TU ein Lehrauftrag für »Elektronische Musik« vergeben wurde und Manfred Krause eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Musikgeschichte erhielt, zu dem das Elektronische Studio zu der Zeit noch gehörte. Mit der Anstellung des Tonmeisters Rüdiger Rüfer war der Arbeitskreis Ende 1961 komplett und trat Ende 1962 erstmalig geschlossen in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Bei der im Fernsehen übertragenen Gesprächskonzert-Reihe »Musik im Technischen Zeitalter«, die von Hans Heinz Stuckenschmidt, dem damaligen Ordinarius des Lehrstuhls für Musikgeschichte geleitet wurde, stellte Boris Blacher, der als Berliner Komponist die Reihe eröffnete, am 19. November 1962 die ersten im Team entstandenen elektronischen Stücke vor.

Zur Bildung einer Arbeitsgemeinschaft mit verteilten eingegrenzten Aufgabenfeldern war es aus Gründen gekommen, die für elektronische Musik und zumal für deren Frühgeschichte typisch sind. [1] Die Komponisten brauchten für die Realisation ihrer Ideen die Unterstützung von Technikern, denn die technischen Verfahrensweisen und der Umgang mit den Geräten, die zumeist der Meßtechnik entstammten, wurden damals und werden auch heute noch bei der Ausbildung von Komponisten nicht in ausreichendem Maße vermittelt.

Einer Äußerung von Boris Blacher zufolge existiert eine Kluft

»zwischen den beiden Gruppen der Techniker und der Musiker: die einen kommen mit exakten wissenschaftlichen Kenntnissen, aber nur ungenügenden musikalischen Ansichten, die anderen sehen klarer in der Kunst, haben aber geringere Kenntnisse von der Technik, so daß sie sogar deren Sprache falsch anwenden. Begriffsbestimmung ist im Feld zwischen dem entlehnten Kunstjargon der einen und dem entlehnten Ingenieurjargon der anderen schwer.« [2]

Seine Vorlesung zur »Elektronischen Komposition« war Forum für eine Aussprache über Musik im allgemeinen und elektronische Musik im besonderen, der Arbeitskreis war dort meistens vollständig anwesend, Winckel oft sogar als Mitleiter der Veranstaltung angegeben. Dort wurde mit den Studenten der verschiedensten Ingenieurwissenschaften und mit werdenden Komponisten eine solche »Begriffsbestimmung« versucht, wurden vereinzelt auch Stückkonzepte entworfen oder sogar ad hoc Klang- und Sprachaufnahmen mit den Anwesenden durchgeführt und Überlegungen zu möglichen Verarbeitungstechniken angestellt. Wie diese Vorlesungen bestand auch die interne Arbeit in der »Gruppe Berliner Elektronik« — wie sich der Arbeitskreis auch nannte — zu einem gewichtigen Teil aus Ideensammlungen und Absprachen bezüglich einzelner Stücke, aber auch zu größeren Projekten oder benötigten Geräten. Auf diesem Forum wurden die verschiedenen Ideen der Mitglieder erörtert, waren sie nun wissenschaftlicher oder rein musikalischer Natur.

Fritz Winckel

Fritz Winckels Funktion als Leiter des Studios und Lehrgebiets war zu einem Großteil organisatorischer Natur. So brachte er bei den Diskussionen der Stücke im Arbeitskreis Vorschläge ein, die primär mit den von ihm in Forschung und Lehre verfolgten Themen zusammenhingen, wobei sich das Spektrum von Akustik und Psychoakustik bis hin zu modernsten kybernetischen Fragestellungen erstreckte. Mit der Vorstellung einer ästhetischen Verbindung von Technik und Kunst vertrat Winckel das Studio bei Kongressen im In- und Ausland und in seinen zahlreichen Publikationen. Durch seine Reisen hielt Winckel Kontakt zu verschiedenen anderen Studios, so zu Pierre Schaeffers »Groupe de musique concrète« (heute INA-GRM) oder nach Gravesano, wo er die von Hermann Scherchen veranstalteten Tagungen regelmäßig besuchte und sich bezüglich technischer und musikalischer Neuerungen auf dem laufenden hielt. Er organisierte in den 60er Jahren zwei internationale Kongresse in Berlin, um den Diskurs über elektronische Musik auch in seiner Heimatstadt zu fördern und das eigene Studio bekanntzumachen.

Da die von der Universität bereitgestellten finanziellen Mittel in keiner Weise ausreichten, benötigte Geräte und dergleichen anzuschaffen, bemühte er sich mit viel Geschick um private Sponsoren und Sachmittelspenden.

Winckel war der Theoretiker und der Organisator der Gruppe.

Boris Blacher

Der Berliner Komponist Boris Blacher bekleidete seit 1953 das Amt des Direktors der Hochschule für Musik in Berlin, seit 1948 war er dort Professor für Komposition. In der Nachkriegszeit hatte er sich maßgeblich für den Aufbau eines vielfältigen kulturellen Lebens in Berlin eingesetzt und dieses durch eigene künstlerische Tätigkeit als Musiker und Komponist insbesondere mit Opern bereichert. Schon sehr früh ergaben sich über seine persönlichen Kontakte zum Ordinarius des musikgeschichtlichen Instituts Hans Heinz Stuckenschmidt und zu Fritz Winckel Berührungspunkte mit dem Studio. Als wichtigsten Berliner Komponisten lud Fritz Winckel Blacher schon 1954 zu dem von ihm organisierten Kongreß »Musik und Technik« ein, um dort über die elektronische Musik zu sprechen. Zu diesem Anlaß äußerte er sich erstmalig auf theoretischer Ebene zu dem neuen »musikalischen Experimentierfeld«, mit dem er sich erst ab Ende 1958 auch praktisch in Form kleiner Stücke zu befassen begann. Ab 1961 frequentierte er das Studio der TU regelmäßig und las im Rahmen seines Lehrauftrags am Lehrstuhl für Musikgeschichte über »Elektronische Komposition«; diese Vorlesung fand zunächst im alten Studiohörsaal H 2053 statt, später ab WS 1967/68 in Raum H110 unter dem Titel »Experimentelle Komposition« (siehe auch Kurzbiografie Blacher erzählt von Hanns Heinz Stuckenschmidt im Rahmen der Veranstaltung Musik im technischen Zeitalter November 1962). Bei dieser Gelegenheit entwickelte Blacher oft spontan Ideen für Stücke. Allmählich passten sich seine Kompositions- und Notationsweise als Folge langjähriger Auseinandersetzung an die technischen Voraussetzungen des Mediums an, und so entstanden nach den spielerischen Stücken der Anfangsjahre eine elektronische Oper und einige andere ausnotierte Werke.

Boris Blacher war der künstlerische Spiritus rector der Gruppe.

Manfred Krause

Manfred Krause begann 1953 sein Studium der Elektrotechnik an der TU und ergänzte dies schon bald durch Vorlesungen von Fritz Winckel, die er im Kontext des damals für Ingenieurstudenten obligatorischen »Studium generale« besuchte. Zunehmend beteiligte er sich mit viel Engagement am Bau notwendiger Geräte (z. B. Tonmühle 1959, Universalmischpult 1958-60) für das zu jener Zeit technisch spärlich ausgestattete Studio. Er und ein weiterer Student — Dieter Braschoss — arbeiteten zudem ab 1957/58 mit einigen Komponisten zusammen, zunächst kurzzeitig mit dem Chilenen José Vicente Asuar [3], etwas später experimentierten sie intensiv mit dem Berliner Komponisten Heinz Friedrich Hartig (siehe "Mein Weg im Elektronischen Studio"). Nach seinem Diplomabschluß 1961 bekam Krause die erwähnte Assistentenstelle, die formal Hans Heinz Stuckenschmidt, real aber Fritz Winckel zugewiesen war. Daraus ergab sich für Krause neben seiner musikalischen Mitarbeit bei den Arbeitskreis-Produktionen und dem praktischen Gerätebau eine wissenschaftliche Karriere: er promovierte und habilitierte am Institut. Seine bevorzugten wissenschaftlichen Themen — z. B. Kybernetik, Informationstheorie und angewandte Sprach- synthese — entsprachen den Zielsetzungen des von Winckel gegründeten Fachgebiets. Immer häufiger übernahm Krause Lehrtätigkeiten von Winckel, wenn dieser auf Vortrags- oder Forschungsreisen war.

Krause war für die Gruppe als Forscher wie als Praktiker gleichermaßen wichtig.

Rüdiger Rüfer

1962 kam der Tonmeister Rüdiger Rüfer an das Studio.

Sein Schulmusik- und Tonmeisterstudium hatte er gerade an der Hochschule für Musik Berlin absolviert. Da der technische Teil der Tonmeisterausbildung an der TU zu absolvieren war, hatte Rüfer schon zu Studienzeiten mit dem Studio zu tun. Mit elektronischer Musik beschäftigte er sich allerdings erstmalig nach seiner Einstellung als Mitarbeiter am Studio. Zunächst hatte er nur einen Privatdienstvertrag, der aus Stiftungsgeldern finanziert wurde, ab Mitte 1963 eine halbe »Hilfsassistenten«-Stelle (20 Stunden monatlich) [4], die 1966 in eine wissenschaftliche Mitarbeiter-Stelle umgewandelt, aber erst 1968 zu einer vollen Stelle wurde. Einen Dauervertrag bekam Rüfer erst 1970. Lange Zeit mußte er sich daher noch als freier Mitarbeiter beim RIAS und SFB Geld dazuverdienen. Zunächst wurde er mit der Verbesserung des elektrischen Vierling-Flügels betraut, tatsächlich arbeitete Rüfer allerdings sofort kräftig bei der Herstellung der ersten Tonbänder 1962 mit. Bald darauf erledigte er sämtliche musikalische Realisationsarbeiten im Studio, denn er zeigte Geschick und Genauigkeit im Umgang mit den zuweilen recht komplizierten Studiogeräten. Im Laufe der Jahre arbeitete er mit etlichen Gastkomponisten zusammen. Besonders eng — auch persönlich — war jedoch die Verbindung zu Boris Blacher, dessen Partituren er realisierte und mit dem er musikalische Probleme erörterte. Außer den Ideen, die im Arbeitskreis entstanden, widmete er sich zunehmend der Konzeption eigener Stücke.

Seine Tätigkeit beinhaltete noch andere Pflichten: er war für das Einspielen von Musikbeispielen bei den Vorlesungen von Winckel und Blacher und die Archivierung der Tonbänder zuständig, denen er meistens eine ausführliche Realisationsbeschreibung beifügte, stellte immer wieder Lehr- und Demonstrationstonbänder für Winckels Vorträge her und kümmerte sich um die Tonmeisterausbildung.

Rüfer war der Tonmeister und Archivar der Gruppe.

 


Die wichtigsten öffentlichen Aktivitäten der AfEM

Nach der kompositorischen Anlaufphase seit ca. 1960 ergab sich die erste öffentliche Präsentation einiger Stücke bei der erwähnten Veranstaltung mit Hans Heinz Stuckenschmidt im November 1962, die immerhin im dritten Fernsehprogramm des Sender Freies Berlin übertragen wurde (siehe Transskription der Wortbeiträge)

 

»Woche der experimentellen Musik« 1964 (Programmdetail)

Im Oktober 1964, also ein Jahr nach dem Umzug des Studios, organisierte Winckel eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Woche der experimentellen Musik«. Vertreter elektronischer Studios und Komponisten der elektronischen Musik aus aller Welt waren eingeladen, während der fünftägigen Kongreßveranstaltung über die technischen und künstlerischen Fortschritte zu diskutieren und ihre musikalischen Produktionen vorzustellen. Am 1. Oktober fand ein »Colloquium der internationalen Studios für elektronische Musik« unter dem Titel Ergebnis und Aussichten der Komposition mit elektronischen Mitteln statt.

Die Veranstaltung war eingebunden in die Berliner Festwochen und wurde in den Räumen der Akademie der Künste am Hanseatenweg durchgeführt. Um nicht in Konflikt mit dem Festwochenprogramm zu geraten, lagen die meisten Veranstaltungen vor- und nachmittags, was aber der regen Anteilnahme seitens des Publikums keinen Abbruch tat. Eine Rezensentin berichtet:

»Eine Tagung für und unter Spezialisten, sollte man meinen [...]. Erstaunlich aber, wie groß der Kreis der Eingeweihten bereits ist und wie viele kommen, um zu lernen, zu verstehen, dazuzugehören. Ein selbst an den Vormittagen keineswegs spärliches Publikum versammelt sich mit ernstem Interesse. Das Festwochengeschehen erfährt hier eine wichtige Bereicherung.« [5]

Nur am ersten Tag gab es ein Abendkonzert, bei dem unter der Stabführung von Bruno Maderna neben dessen Komposition Le Rire auch das Konzert für Klavier und Elektronik von Josef Tal uraufgeführt wurde.

In den weiteren Veranstaltungen ergänzten diverse Tonband- und Filmvorführungen mit Stücken aus den Studios Köln, Mailand, München, New York, Paris und Warschau das Bild vom elektronischen Musikschaffen. Die TU-Gruppe brachte Blachers Komposition Skalen 2:3:4 zur Uraufführung, außerdem wurden Ernst Kreneks Elektronische Musik von 1962 und als Gemeinschaftswerk des Arbeitskreises die Komposition Der Astronaut gespielt.

»Zwischenfälle bei einer Notlandung« 1966

Starkes öffentliches Interesse genoß die Blachersche Oper Zwischenfälle bei einer Notlandung, ein Auftragswerk von Rolf Liebermann, das im Februar 1966 an der Staatsoper in Hamburg ihre Uraufführung erlebte. Die Arbeiten an dem immerhin 56-minütigen Zuspielband hatten schon 1963 begonnen und prägten die darauffolgenden Jahre maßgeblich. Ein Opernhaus mit elektronischer Musik zu beschallen, war ein Unterfangen, das die öffentliche Aufmerksamkeit in erheblichem Maße erregte und nachhaltig Eindruck hinterlassen hat, wenngleich die Aufführungen und besonders der rein elektronische Teil Maschinensturm umstritten waren. (Dazu später mehr)

»Internationale Woche für experimentelle Musik« 1968 (Programmdetail)

Im Herbst 1968 fand vom 7. bis zum 12. Oktober die 2. »Internationale Woche für experimentelle Musik« statt, wieder mit dem Ziel des wissenschaftlichen Austauschs, wieder im Rahmen der Berliner Festwochen. Diesmal traf man sich in der TU, in den neuen Räumen im Erdgeschoß des Hauptgebäudes. Eine Vortragssitzung am 8. Oktober im Auditorium Maximum stand unter dem Titel »Ästhetische Probleme der elektronischen Musik«; das Leitreferat hielt Carl Dahlhaus, zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr Ordinarius des Instituts für Musikwissenschaft. In seinem Vortrag [6] bestand er auch in Bezug auf elektronische Musik auf die Gültigkeit und fundamentale Qualität der Kategorie »Zusammenhang«, welche jedoch hier, anders als selbst in kompliziertester serieller Musik, der Analyse wegen der Absenz von Partituren prinzipiell schwer zugänglich sei. Walter Bachauer, der die Tagung als aufmerksamer Beobachter verfolgte, befand den Vortrag von Dahlhaus als »einzigen unnaiven Beitrag zu jenem Thema« [7].

Weitere Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen beschäftigten sich mit verschiedenen Problemen elektronischer Musik; ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Einsatz von informationsverarbeitender Technologie. Gottfried Michael Koenig berichtete über die kompositorische Verwendung des Computers, weitere Vorführungen lieferten Peter Zinovieff aus London und Pietro Grossi aus Florenz. Über seine statistisch gestützten Musikanalysen referierte Wilhelm Fucks, H. Zemanek warnte deutlich vor einer Überbewertung informationstheoretischer Ansätze. Am letzten Tag sprach György Ligeti in einem improvisierten Vortrag (er war für den verhinderten Max Bill eingesprungen) über den Einfluß, den seine Arbeit im Kölner elektronischen Studio auf sein instrumentales Schaffen ausgeübt hatte.

Zwei »Konzerte experimenteller Musik« fanden gleichfalls im Audimax statt. Am 9. Oktober wurden neben Stücken von Andrzej Dobrowolski, Guy Reibel und Milko Kelemen auch die Raumfassung von Ernst Kreneks Elektronische Musik und Tratto von Bernd Alois Zimmermann gespielt. Außerdem wurde Makoto Shinoharas in der TU produzierte Personnage [8] uraufgeführt. In dieser elfminütigen Komposition finden sich keine elektronischen, sondern nur »von einem Menschen produzierte« Klänge: Aufnahmen von Körpergeräuschen, Flüstern usw. Beim zweiten Konzert kam es zu einem immerhin ungewöhnlichen Skandal. Beim Vortrag von Henk Badings’ Genesis mußte sich der »Rott’s Mannenkor« aus Rotterdam unter der Leitung von Jos Vranken Pfiffe und laute Buhrufe gefallen lassen. Das Werk, in seiner biederen Liedertafel-Ästhetik nichts weniger als experimentell, war dem Publikum offenbar zu altmodisch [9], und das spricht für eine dem Neuen aufgeschlossene Atmosphäre, die offenbar über der »Woche für experimentelle Musik« gelegen haben muß. Dieses Klima war dann auch der Vorab-Präsentation eines neun Minuten langen Fragments aus Blachers Ariadne nicht eben günstig. Dieser Versuch der Wiederbelebung eines Melodrama-Librettos aus dem Jahre 1775 [10] »war wohl zu tief in die mentale Schlichtheit des 18. Jahrhunderts hineingeraten«, wie ein Rezensent berichtet [11]. Die im gleichen Konzert uraufgeführte Computerkomposition Funktion Gelb von Gottfried Michael Koenig und Krzysztof Pendereckis im Experimentalstudio des Polnischen Rundfunks in Warschau entstandener Psalmus 61 wußten das Publikum besser zu befriedigen.

EXPO’70 in Osaka

Den Höhepunkt der Zusammenarbeit im Arbeitskreis stellte die Beteiligung des Studios am Deutschen Pavillon der Weltausstellung in Osaka 1970 dar. Die technische Betreuung des Kugelauditoriums mit einem Raumklang-Steuerungssystem, die Vertonung diverser Dokumentarfilme über den Stand von Forschung und Technik in Deutschland und die Produktion einer elfminütigen Raumkomposition, der Großen Kugelkomposition stellte für die Mitarbeiter sowohl ingenieurtechnisch als auch in künstlerischer Hinsicht eine besondere Herausforderung dar. Eng zusammenzuarbeiten war Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluß. [12]


Team als hermetischer Zirkel; Streit um die Nutzung des Studios

So wichtig die geschlossene Einheit des Teams für die Entwicklung eines spezifischen Stils war, das System hatte nach außen hin die deutlich negative Auswirkung, hermetisch zu sein. Das Studio lud im Zeitraum von 1962 bis 1975 nur 10 externe Komponisten ein, im Elektronischen Studio ein Stück zu produzieren oder realisieren zu lassen. Künstlerische Vielfalt und Erneuerung konnte dadurch kaum entstehen.

Wohl forderte Winckel immer wieder auf, das Studio zu besuchen und Arbeitskonzepte einzubringen, er bestand jedoch auf einer konzeptionellen Abstimmung mit der durch den »Arbeitskreis für Elektronische Musik« geprägten musikalischen Ausrichtung, er bestand auf Teamarbeit und lehnte Komponisten ab, die mit einer fertigen Konzeption zur Realisation durch den Tonmeister kamen. Insgesamt hatten ausländische Gäste oder bekannte Komponisten des konservativen Spektrums bessere Chancen als junge Berliner Komponisten, die gegen die eingefahrenen musikpolitischen Strukturen revoltierten. Der Generationskonflikt der 60er und 70er Jahre war in dem Verhältnis des Studios zur jüngeren Berliner Öffentlichkeit spürbar. Besonders bei der »Internationalen Woche für experimentelle Musik 1968« hatte es lautstarke Proteste gegen die Führung des Studio gegeben, der man anlastete, jungen Komponisten keine Arbeitsmöglichkeiten zuzugestehen. Selbst die Ausleihe von Geräten wurde seit Mitte der 60er Jahre »wegen Personalüberlastung« abgelehnt. Darunter zu leiden hatte zum Beispiel die Gruppe »Neue Musik Berlin«, der neben anderen Erhard Grosskopf und Thomas Kessler angehörten.

Die Kooperation mit dem Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) bzw. mit dessen Vorläufer-Organisation, der »Henry-Ford-Stiftung«, war zunächst trotz guter Beziehungen problematisch. Obwohl Winckel ein ums andere Mal um die Vermittlung von auswärtigen Komponisten bat, mußten DAAD-Stipendiaten zur Verwirklichung ihrer elektroakustischen Konzeptionen auf andere Studios ausweichen. So Iannis Xenakis, der 1963 ein Computermusik-Konzept vorschlug [13], dem das Studio schon rein technisch nicht gewachsen war, oder Frederic Rzewski, der 1965 sein Stück Zoologischer Garten im Studio für künstliche Klang- und Geräuscherzeugung des Rundfunk- und Fernsehtechnischen Zentralamtes der Deutschen Post in Adlershof, im Ostteil der Stadt realisierte.

Trotz einer relativ erfolgreichen Zusammenarbeit des Elektronischen Studios mit den Stipendiaten Makoto Shinohara und Milko Kelemen (1968) und Nikos Mamangakis (1970) stellte der DAAD 1971 einen Antrag auf Zuwendung von 200.000 DM zur Einrichtung eines weiteren als mobil geplanten Studios, das für live-elektronische Klangerzeugung ausgerüstet werden sollte. Dieser Antrag wurde jedoch vom Lottobeirat abschlägig beschieden. In einer später veröffentlichten Einschätzung kommentierte Walter Bachauer diese Vorgänge, ohne das TU-Studio auch nur zu erwähnen:

»Eine Stadt, die sich das Image des Fortschritts gibt, brachte den simplen technischen eines eigenen Produktionsstudios für Elektronische Musik nicht zustande und verwies die in jener Materie arbeitenden Komponisten ans Ausland. Kaum glaubhaft: Musiker aus Dartmouth/New Hampshire fanden hier nicht einmal die Ausstattung, die ihr Kleinstcollege jedem Studenten anbietet. Das elektronische Studio — nicht nur eine Miniausrüstung für Live-Konzerte — wäre auch noch immer eine inter-institutionelle Anstrengung wert. Es würde manch teure Einladung erübrigen und das künstliche Berliner Klima um eine natürliche Attraktion bereichern.« [14]

Neben diesen »geistigen Konflikten« waren aber auch die begrenzten Kapazitäten — sowohl in technischer als auch personeller Hinsicht — Ursache für die geringe Außentätigkeit. Neben den musikalischen und technischen Großprojekten und der kontinuierlichen »Begriffsbestimmung« sorgten auch universitäre Verpflichtungen wie die Tonmeisterausbildung für die interne Auslastung des Studios. Mit Rüdiger Rüfer stand zudem nur ein einziger geschulter Tonmeister zur Verfügung. Dieser Argumentation entspricht auch die Tatsache, daß sich im Verhältnis von Arbeitskreis-Produktionen zu Kooperationen mit Gastkomponisten ein positiver Trend ausmachen läßt: bis ca. 1971 machten die Arbeitskreis-Stücke noch eindeutig die Mehrzahl aus, vor 1966 arbeitete gar kein »richtiger« Gast im Studio. Mit der allmählichen Auflösung des ›Arbeitskreises‹ nach 1970 ergaben sich dann deutlich mehr Zeitfenster für Impulse von außen. Studiokapazitäten wurden freigesetzt und Rüfer hatte Zeit, mit Gastkomponisten zu produzieren und eigene Konzepte zu verwirklichen.


Nach Osaka wurden von der AfEM keine Großprojekte mehr organisiert. Als typische Arbeitskreis-Trilogie folgten noch die Stücke Signets (eine elektronische Variationenfolge, komponiert und produziert von Rüfer nach einer Idee von Blacher), Reihe im Zerrspiegel (für Live-Klavier und Tonbandeinspielung einiger Variationen von Signets) und Kaktus (ein Film von Ernst Reinboth, zum Teil wiederum mit Ausschnitten von Signets vertont).

Nach 1970 zerfiel die Arbeitsgruppe langsam — der für die Zusammenarbeit notwendige innere Zusammenhalt war sowohl auf institutioneller als auch persönlicher Ebene nicht mehr gegeben — und wurde mit der Berufung Rüfers an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hannover 1974 und Winckels Emeritierung 1975 aufgelöst. Die letzte Aufführung der Studio-Gruppe fand im September 1974 im Rahmen des Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft statt. Anfang 1975 starb Boris Blacher. An der TU verblieb nur der mittlerweile habilitierte Manfred Krause, der — nachdem er seit 1976 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Umweltbundesamt im Fachbereich Lärmbekämpfung übernommen hatte — 1979 Winckels Nachfolge als Professor im Fachgebiet Kommunikationswissenschaft antrat.

[fg-jg] 



[1]  Meist wird auch heute noch eine ähnliche Arbeitsteilung befolgt, aber tendenziell ist infolge der Anwendung von Digitalrechnern eine Individualisierung und Vereinzelung zu beobachten. Sowohl die kompositorische Anlage (algorithmische Kompositionen), als auch die Klangsynthese und Klangverarbeitung sind mit Computern zu realisieren, die die Komponisten zunehmend selbst bedienen.

[2]  Boris Blacher, zitiert in: Thomas M. Langner: »Kunst kommt von Können«, in: Boris Blacher, Ausstellungskatalog der Akademie der Künste Berlin, 1973, S. 10-13, hier S. 12.

[3]  Zeugnisse seiner Arbeit — Tonbänder oder Kompositionsskizzen — hat Asuar leider nicht hinterlassen. Manfred Krause berichtet allerdings, die musikalischen Ideen seien »recht konkret« gewesen. Asuar weilte ein zweites Mal 1976 im TU-Studio (Entwicklung eines Sequenzers)

[4]  Die Stelle wurde aus nicht besetzten Stellen finanziert und mußte daher vierteljährlich verlängert werden. Mehrfach beantragte Winckel bei der Universitätsverwaltung die Umwandlung der Stelle; auch der DAAD setzte sich 1967 dafür ein, im Interesse der an der Arbeit im Studio interessierten Stipendiaten des Berliner Künstlerprogramms.

[5]  Sybill Mahlke: »Elektronische Experimente. Zu einer Tagung in der Akademie der Künste«. Der Tagesspiegel, 2. Oktober 1964 (Nr. 5792), S. 5.

[6]  Später veröffentlicht als: Carl Dahlhaus: »Ästhetische Probleme der elektronischen Musik«, in: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur neuen Musik, Mainz: Schott, 1978, S. 234-244.

[7]  Walter Bachauer: »Jargon der Neuen Musik«, Die Welt, 17. Oktober 1968.

[8]  Die im TU-Studio produzierte Version ist vom Komponisten später zurückgezogen worden.

[9]  Gleichfalls während der Berliner Festwochen 1968 war es einer anderen musikalischen Aufarbeitung des biblischen Schöpfungsmythos ähnlich ergangen. Rudolf Wagner-Régenys Genesis aus dem Jahre 1956 erschien dem Rezensenten (Walther Kaempfer im Tagesspiegel vom 9. Oktober 1968 [Nr. 7017], S. 4) »blaß und anämisch«.

[10]  Näheres zur Kompositionsweise von Ariadne im Buch nachzulesen.

[11]  Walter Bachauer

[12]  Näheres zu der technischen Anlage siehe das Buch »Osaka: Technik für das Kugelauditorium«, S. 195-212, zur künstlerischen Produktion der Großen Kugelkomposition

[13]  Für die Zusammenarbeit mit Xenakis wurden 1963 im voraus 2.800 DM von der »Henry-Ford-Stiftung« gezahlt. Ursprünglich waren sogar 16.800 DM bewilligt worden, 1.400 pro Monat, die sich nach Fritz Winckels interner Berechnung zu 350 DM für Rüfer, 250 DM für einen studentischen Mitarbeiter namens Klaus Matthes und 800 DM für Material aufteilten. 1963/64 fanden Projektbesprechungen mit Xenakis statt, nach denen sich die projektierte Zusammenarbeit als unrealistisch erwies. 1966 wurde das Geld zum Teil zurücküberwiesen.

[14]  Walter Bachauer: »DAAD-Komponistenprogramm — Ein Versuch wider die musikalische Provinz«, 10 Jahre Berliner Künstlerprogramm, Berlin, 1975, S. 56-58.